Statt einer Weihnachtsfeier setzen wir ja schon seit längerem auf eine Neujahrsfeier: Anstoßen auf das, was kommt. Austauschen über das, was uns im neuen Jahr erwartet. All die Projekte gebührend begrüßen, in die wir uns stürzen. Und, nebenbei bemerkt, nicht in zur Vorweihnachtszeit überfüllte Restaurants hetzen und unter dem Tisch schnell noch per Smartphone die Weihnachtsgeschenke in Auftrag geben.
Kunsthalle Mannheim
Und deshalb kamen wir kürzlich mit allen Kolleginnen und Kollegen von O’Reilly und dem dpunkt.verlag zur Neujahrsfeier zusammen. In diesem Jahr hieß unser Ziel Mannheim, genauer: der erst im Frühsommer 2018 eröffnete Neubau der Kunsthalle. Statt des ehemaligen sogenannten Mitzlaff-Baus steht nahe des Mannheimer Wasserturms nun ein lichtdurchlässiges Gebäude, das mit seinen kubischen Ausstellungsräumen auf die quadratisch angelegte Mannheimer Innenstadt anspielt. Und weil das Motto des Neubaus “Die Stadt in der Stadt” lautet, gibt es große Fensterflächen, über die die Mannheimer nach drinnen und die Besucher des Museums nach draußen blicken sollen, dazu auch Kunstwerke in der Ausstellung, die nach draußen gerichtet sind.
In zwei Gruppen durchkreuzten wir nun die Kunsthalle (wir sind viele ;)), begleitet von jeweils einer Museumsführerin, die uns die aktuell laufende Ausstellung “Konstruktion der Welt” zeigte und erklärte. Wir sahen zunächst Teil 1 mit Kunstwerken aus den Jahren 1919 bis 1939, die sich zwar alle mit dem Einfluss von Wirtschaft, technischem Fortschritt und Industrie auf Menschen, Leben und Gesellschaft befassen, aber wegen ihres unterschiedlichen Ursprungs von Künstlern der USA, der Sowjetunion oder Deutschlands ein ganz besonderes Spannungsfeld erzeugten. Klar: wie wir auf die Welt blicken, hängt wesentlich davon ab, in welcher Welt, unter welchen Bedingungen und Regeln, in welcher Gesellschaft wir leben. So zeigt ein Werk des in Berlin geborenen Malers George Grosz gesichtslose und gebückte Arbeiter in einem tristen Umfeld, während beim sowjetischen Maler Alexander Deineka der Bau neuer Fabrikhallen fast an ein Gemälde des Barocks erinnert: enthusiastisch, kräftig, sinnlich. Dabei konnte weder Grosz unbehelligt kritisieren – im Gegenteil, wegen seiner Kunst saß er mehrfach vor dem Richter und emigrierte schließlich – noch war Deineka nur treuer Soldat Stalins.
Und trotz aller Zwischenebenen und Widersprüche: die Bilder dieses ersten Ausstellungsteils berichten einstimmig von der Suche nach einer Ordnung, vom Arbeiten in Fabriken und vom Denken in Strukturen, vom Beamtentum und von neuen Statussymbolen (Stichwort “Neue Sachlichkeit”, der Begriff wurde übrigens ebenfalls in Mannheim im Jahr 1925 entworfen), von der Frage: Bringt uns diese neue Welt nun Gleichschritt oder Gleichberechtigung? Später wandten sich einige wieder den Landschaftsbildern zu, malten fast romantische Szenen vom Leben und Arbeiten auf dem Land – auch davon gibt es in Mannheim Bilder zu sehen.
Schließlich wechselten wir über die Treppen des 22 Meter hohen Atriums zu den Jahren 2008 bis 2018. Dort interpretierten nun zeitgenössische Künstler die Rolle der Wirtschaft in unserer Gesellschaft. Wir sahen die mit Graffiti beschrifteten Zelte des Aktionskünstlers Thierry Geoffroy, die Goldreserven der Länder von Alicja Kwade, wunderschöne “Stickbilder” von Maja Bajević, Bitcoin-Server und vieles mehr. Ein Highlight (für mich): die Grafik “World Government” vom Bureau d’Etudes zeigt, welche Konzerne, Marken und Industrien uns beeinflussen (wenn auch aus dem Jahr 2008 und damit nicht mehr ganz aktuell). Wer es genauer ansehen will: Hier gibt es das PDF.
Fazit: Eine sehr vielseitige Ausstellung, wobei der zweite (neuere) Teil mir die Schwere des ersten Teils wieder von den Schultern nahm (ohne dabei leicht oder gar nichtssagend zu sein, ganz im Gegenteil). Die Kunst der “Neuen Sachlichkeit” forderte uns heraus, ist häufig sehr düster oder zumindest doch deprimierend, gleichzeitig aber nicht ohne Ästhetik. Und sie inspiriert gerade auch wegen ihres Muts, Wirtschaft, Industrie und Arbeit in den Fokus zu rücken und dabei auch Sozialkritik zu üben.
Hätte man übrigens auch aus Werken der neuesten Neuzeit kuratiert (und wäre das Album schon 2018 erschienen und nicht erst vor ein paar Tagen), wäre wohl dieser Dendemann-Song in der Ausstellung (beste Zeile: “Ist doch alles eh nur Algorithmus-Gymnastik”):
Und während Dendemanns Reime ganz geschmeidig durchs Wohnzimmer wabern, würde ich mir wohl keines der in der Kunsthalle ausgestellten Bilder in selbiges hängen, und auch nicht ins Büro – und dennoch brachten die Bilder unsere Gedanken und Gespräche in Gang. Und deshalb eignet sich ein Besuch in der Kunsthalle (oder eines anderen Museums) prinzipiell für alle. Auch die, die in ihrem Alltag wenig mit Kunst zu tun haben, weil sie programmieren oder beraten oder Daten auswerten oder Marketingstrategien entwickeln oder auch IT-Bücher lektorieren und verkaufen: Wer in unbekannte, auch unbequeme Felder eintaucht, wird immer lernen und profitieren. (Wo sind die Mark-Twain- oder Goethe-Aphorismen, wenn man sie mal braucht?)
Wer jetzt Lust bekommen hat: Die Kunsthalle Mannheim hat außer montags täglich geöffnet, einmal monatlich gibt es einen langen Mittwoch bis 22 Uhr. Die Eintrittskosten liegen bei 10€ für Erwachsene, es gibt die üblichen Ermäßigungen. Wenn Ihr könnt, meldet Euch zu einer der öffentlichen Führungen an, für uns war das wirklich Gold wert. Hier gibt’s alle Infos auf einen Blick.
Essen und Reden
Nach anderthalb Stunden Führung mussten wir das Museum schon wieder verlassen, ein nettes kleines Lokal wartete mit einer ganzen Menge Köstlichkeiten auf uns (eine neungängige Vorspeise, großartig und großartig lecker). Und wir waren nach so viel Kunst nicht nur hungrig, sondern brannten auch darauf, mit den Kolleginnen und Kollegen zu klönen. Über die demnächst bei dpunkt anstehenden Konferenzen, über unsere Buchideen, über schöne Buchhandlungen landauf und landab und natürlich auch über private Dinge. <Lobhudelei>Denn manchmal trifft man auf Teams, die wie ein großer Freundeskreis sind, und auf Kolleginnen und Kollegen, mit denen sich betriebliche Neujahrsfeiern wie ein warmer Sommerregen (mit Lagerfeuer! am Strand!) anfühlen.</Lobhudelei>
Danke an die Kunsthalle Mannheim für den tollen Einstieg, danke an das Costa Smeralda für das leckere Essen und ganz großes Danke an alle O’Reillys und dpunkte für den wunderbaren Abend. Jetzt sind wir inspiriert, gestärkt und voller Schaffensdrang. 🙂