Big Data, Data Mining, datenbasiertes Marketing: In den Ohren der Wirtschaft klingen diese Buzzwords verheißungsvoll, in den Ohren der Kunden nervig bis beängstigend. Und die Erfolgsaussichten? Wir haben uns mit Thomas Ramge, Technologie-Korrespondent des Magazins brand eins, Buchautor von “Smart Data” und Keynotespeaker der Konferenz data2day unterhalten.
oreillyblog: Herr Ramge, in den vorangegangenen Gesprächen, die wir u.a. hier im oreillyblog zu Big Data führten, wurde immer deutlich: Das Schlagwort Big Data hat nicht nur eine Dimension. Wie definieren Sie es?
Die Gartner-Definition mit ihren drei (oder erweitert vier oder fünf) Dimensionen, an denen wir uns alle seit fünf Jahren abarbeiten, ist ja nicht falsch. Rasch wachsende Datenvolumen, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Varianz erlauben der Massendaten-Analyse, die Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen, Prozesse zu optimieren und in die Zukunft gerichtete Management-Entscheidungen auf der Grundlage von besseren Prognosen zu treffen. Das Problem am Begriff Big Data ist, dass er durch das “Big” die Dimension der Größe zu stark betont. Im Kern geht es ja im Business-Kontext darum, Daten zu nutzen, um Wertschöpfung zu verbessern. Es gibt natürlich Unternehmen, für die gilt: Je mehr Daten, desto besser. In den meisten Kontexten ist aber die schiere Größe der Datenmengen eher hinderlich. Die richtigen Daten in der richtigen Varianz verhelfen zu ökonomischem Mehrwert.
oreillyblog: In Ihrer Keynote auf der data2day* berichten Sie darüber, dass einige BigData-Träume in deutschen Unternehmen geplatzt sind. Wie geht der Weg hinaus aus versenkten Budgets und unkonkreten Visionen?
Indem wir uns von der Vorstellung lösen, dass wir nur genug Daten und Rechenpower brauchen, um mit Big-Data-Anwendungen einen ökonomischen Big Bang zu erzielen. Das gelingt den meisten nicht – und es wiederholen sich all die Enttäschungserfahrungen, die Unternehmen auch in der Vergangenheit mit großen IT-Projekten gemacht haben, bei denen viel zu viel versprochen und viel zu wenig gehalten wurde. Meine Co-Autoren Prof. Dr. Björn Bloching von Roland Berger, Lars Luck von der Metro Group und ich nennen diesen Weg: Smart Data.
Mit diesem Begriff wollen wir kein in Verruf geratenes Buzzword durch ein neues ersetzen. Smart Data ist weder eine technische Lösung noch ein neues Management-Mantra. Smart Data ist eine praktikable Haltung mit der Leitfrage: Wie nutzen wir Kundendaten effizient, ohne uns selbst technisch, personell und finanziell zu überfordern? Aus dieser Haltung ergibt sich eine iterative, also schrittweise vortastende, hypothesen-basierte Vorgehensweise. Der gesunde Menschenverstand ist dabei ein ebenso wichtiger Rohstoff wie die Daten.
oreillyblog: Mit welchem Ziel?
Ziel ist es, in allen Anwendungsfeldern von Smart Data die Kunden besser zu verstehen, um sie zu binden und damit ihren Kundenwert langfristig zu erhöhen.
Der Smart-Data-Weg ist einer mit vielen Etappen. Die Route steht nicht von vornherein fest. Das Management hat natürlich eine Vorstellung von der Marschrichtung, aber Experimente weisen den Weg, wie Kundenbedürfnisse in Zukunft besser bedient werden können. Aus einzelnen Smart-Data-Projekten entsteht bei systematischer Vorgehensweise ein selbstlernendes System. Immer mehr Menschen und Abteilungen im Unternehmen lernen auf diesem Weg, Kundendaten immer intelligenter zu nutzen.
Smart-Data-Haltung ist: Du musst nicht Google werden, um der erfolgreichste Versicherer, Multikanal-Händler oder Schrauben-Hersteller mit eigenem Vertrieb zu bleiben oder werden. Du musst nur in Deiner Branche das Unternehmen mit dem höchsten digitalen IQ werden. Denn smart bedeutet, intelligent die Chancen der Datenanalyse zu nutzen, richtig zu priorisieren und diese neuen Möglichkeiten mit den eigenen Stärken zu verbinden. Auch wenn auf Trendtagen gerne das Gegenteil behauptet wird: Bis auf weiteres heißt der wichtigste Wettbewerber von Versicherern, Multikanalhändlern und Schraubenherstellern nicht Google. Die Ausnahme bestätigt die Regel, aber die härtesten Wettbewerber bleiben in den meisten Märkten die Altbekannten – mit ähnlichen Produkten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen.
Smarte Unternehmen träumen nicht davon, so datenkompetent wie die Besten im Silicon Valley zu werden. Sie wollen die smartesten in ihrer Klasse sein und sich Schritt für Schritt mit Analytik Wettbewerbsvorteile gegenüber der direkten Konkurrenz aufbauen.
oreillyblog: Im Vergleich mit internationalen Unternehmen – die zumeist aus den bezüglich Datenschutz weitaus unkritischeren USA kommen: Wie weit ist Data Mining in deutschen Unternehmen vorangeschritten, auch außerhalb der Konzerne, etwa im Mittelstand?
Es wird viel darüber gelästert, dass deutsche und europäische Unternehmen bei der analytischen Kompetenz stark hinterher hinken. Das wird dann auf Trendtagen gerne mit Untergangsszenarien verbunden. Ich bin da nicht so pessimistisch, und schon gar nicht beim deutschen Mittelstand. Dessen Stärke waren und sind die Anforderungen ihrer Kunden zu erspüren und mit innovativen Lösungen Bedarfe zu bedienen. Die meisten mittelständischen Unternehmen haben verstanden, dass Daten dabei in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen und haben sich auf ihre digitale Transformationsreise gemacht. Umgekehrt habe ich es immer wieder mit europäischen Konzernen zu tun, bei denen ich denke: Das kann doch gar nicht sein, wie datenblind die noch sind! Und dass obwohl die jährlich hunderte von Millionen in ihre IT stecken.
Data2day, 29. September bis 1. Oktober 2015, Karlsruhe
Tools und Methoden für Big, Smart und Fast Data : Das Konferenzprogramm richtet sich an Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen, die beliebige Mengen und Arten interner und externer Daten sammeln, verarbeiten und für ihr Business nutzbar machen wollen. Mehr Infos
oreillyblog: Am deutlichsten wird die Auswertung von Kundendaten aktuell noch im E-Commerce. Klicke ich mich an einem Tag auf der Suche nach einem neuen Sofa durchs Web, muss ich am nächsten Tag auf allen weiteren von mir besuchten Websites Sofa-Werbung wahrnehmen. Sind Bannerwerbung und Retargeting aus Ihrer Sicht der richtige Weg, und mit welchen Hürden müssen Unternehmen beim Einsatz datenbasierten Marketings rechnen?
Die Bilanz des Targeted Marekting ist gemessen an den Versprechen der digitalen Werber extrem schlecht. Nein, sie erkennen aus unseren Clickstreams offenkundig nicht, wofür wir uns interessieren. Sonst würden sie uns ja wenigstens ab und an Werbung zuspielen, die uns interessiert. Cookie-basiertes Retargeting ist, wie wir alle täglich erfahren, eine ziemlich dämliche Notlösung. Die Klickraten sind zwar etwas höher, aber es rechnet sich nur, weil das Werbeinventar im Netz so billig ist. Datenintelligenz behaupten und dann mit der Schrotflinte ballern ist keine gute Kombination. Aber genau das macht die digitale Werbung heute sehr oft. Programmatic Advertising ist in meiner Wahrnehmung die Optimierung von Werbemitteln, die grundsätzlich nicht funktionieren. Da muss sich dann auch niemand wundern, dass die Kunden in Scharen mit Ad-Blockern antworten.
oreillyblog: Als Kunde habe habe ich mich nun damit abgefunden (und ja, finde es bisweilen gegen meine Vernunft sogar praktisch), dass große Online-Händler mich über anstehende Konzerte meiner Lieblingskünstler oder ein neues Buch einer von mir häufig angeklickten Autorin informieren. Als zuletzt aber meine kleine Vorort-Apotheke anbot, ein Kundenkonto zu eröffnen, in dem all meine jemals benötigten Medikamente gespeichert werden, habe ich gruselnd abgelehnt. Der Mehrwert war für mich nicht ersichtlich, jede Apotheke in Deutschland schafft mir ohnehin nahezu jede Arznei in ein paar Stunden heran. Mein Vertrauen in die Sicherheit meiner Gesundheitsdaten dagegen ist gegenüber der kleinen, lokalen Apotheke – ohne IT-Spezialisten – nicht sonderlich hoch. Wie überzeugen Unternehmer Ihre Kunden von den Vorteilen des Datensammelns?
Sie sprechen viele wichtige Aspekte an. Als Kunde erwarten Sie berechtigterweise einen fairen Daten-Deal zwischen Ihnen und dem datennutzenden Unternehmen. Der sollte auf vier Pfeilern stehen:
1. Datensicherheit
2. Transparenz
3. Verhältnismäßigkeit
4. Mehrwert für den Kunden
Erfolgsentscheidend ist, ob es Unternehmen als seriöse Daten-Partner gelingt, folgendes Angebot glaubhaft zu unterbreiten: Wenn ihr eure Daten mit uns teilt, ist dies ein Geschäft zum beidseitigen Vorteil. Wir werden eure Daten nicht missbrauchen, um euch auszuspionieren und abzuziehen. Sondern wir werden sie nutzen, um eure Wünsche und Bedarfe passgenauer zu bedienen. Denn unser Ziel ist es, dauerhaft eine gute Kundenbeziehung zu pflegen.
Smart Data folgt dem Prinzip “Earned Data”. Die Kundendaten gehören den Kunden. Diese entscheiden kontextuell, welche Daten sie mit welchem Unternehmen teilen wollen. Sie stellen ihre Geodaten gerne zu Verfügung, wenn dies für die Anwendung wirklich sinnvoll ist. Und sie reagieren berechtigter Weise allergisch, wenn sie das Gefühl beschleicht: Da sammelt eine Datenkrake in Big-Data-Manier alle Informationen ein, die sie bekommen kann, um sie irgendwann einmal für was auch immer auszuwerten oder gar weiter zu verkaufen.
Smart Data Champions fragen nicht die Hausjuristen, wie der Kunde oder Nutzer in Einwilligungserklärungen gerade noch an der Grenze zur rechtlich möglichen hineingetrickst werden kann. Sie setzen ihre IT-Systeme nach dem Prinzip auf: Gespeichert werden nur Daten, aus denen sich tatsächlich Kundennutzen ableiten lässt.
Diese Haltung wird langfristig Erfolg haben. Denn nur diese wird dazu führen, dass Kunden ihre Daten gerne teilen.
oreillyblog: Ist #BigData aus Kundensicht immer ein Abwägen zwischen Bequemlichkeit und Abschotten? Wie gehen Sie persönlichen mit den Daten um, die Sie hinterlassen – bzw. versuchen Sie dies gar zu vermeiden?
Bei Online-Banking und Zahlungsdaten bin sich sehr vorsichtig. Ich nutze auch keine Apps, die Gesundheitsdaten ermitteln und in irgendeiner Form weiterleiten können. Entsprechend habe ich auch keine Smart-Watch und kein Fitness-Armband, obwohl ich den Mehrwert sehe. Bevor ich mir eines kaufe, würde ich hier sehr genau hinschauen, was in den AGB zu Datennutzung steht. Bei allgemeinen Kauf- und Konsumdaten habe ich keine Bedenken. Da wäre ich im Gegenteil froh, wenn diejenigen, die sie haben, mir endlich mal intelligentere Angebote zuspielen würden.
Herr Ramge, ich danke Ihnen für das Gespräch.
*Disclaimer: Das oreillyblog gehört wie das O’Reilly-Programm seit Juli 2015 zum dpunkt-Programm. Der Verlauf bzw. die Fragestellungen des Interviews blieben davon jedoch unbeeinflusst.